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E-Bike extrem an der Zugspitze

"You are crazy"

Gibt es Grenzen für das E-Bike? Und falls ja, wo verlaufen die? Gibt es Touren, auf denen man sich die Sinnfrage zu stellen beginnt, auf seinem elektrisch verstärkten Gefährt? Die Gatterl-Runde rund um die Zugspitze: über eine Grenzerfahrung im doppelten Wortsinn.

Es gibt diesen legendären Film von Werner Herzog, in dem Klaus Kinski den exzentrischen Opernliebhaber „Fitzcarraldo“ spielt. Um seinen Traum zu verwirklichen - ein Opernhaus mitten im Amazonas-Dschungel - lässt er einen kompletten Flussdampfer über einen Bergrücken schleppen. Im Film verkörpert Kinski auf ebenso brillante wie beängstigende Weise jene Besessenheit am Rande des Wahnsinns, die nötig ist, um solche Projekte in die Tat umzusetzen. „Die Eroberer des Nutzlosen“ hat der französische Kletterpionier Lionel Terray in seinem 1961 erschienenen Buch die Bergsteiger genannt, und auch Werner Herzog verwendete diesen Begriff 2004 in seinen Memoiren über die Dreharbeiten zu „Fitzcarraldo“.


Zugegeben, das ist jetzt ein bisschen sehr dick aufgetragen als Einleitung für jene im Nachhinein recht überschaubare Eintages-Radtour, um die es hier geht. Sie fand auch nicht abseits der Zivilisation statt, sondern im bis in jeden Winkel erschlossenen Zugspitzgebiet, auf harmlosen Wanderwegen und mit einem halben Dutzend Rastmöglichkeiten auf ganz wundervollen Berghütten. Wir mussten keinen alten Eisendampfer über den Berg schleppen, sondern lediglich unsere E-Bikes. Nicht einmal einen Zweitakku hatten wir einkalkuliert: Mit etwas unter 40 Kilometern Distanz und nicht mehr als rund 1.700 Höhenmetern würde der aller Voraussicht nach nicht nötig sein. Also alles andere als eine Extremtour – und das auch noch mit elektrisch verstärkter Steighilfe! Dass die Aktion abschnittsweise trotzdem Züge von „Fitzcarraldo“ tragen würde, ahnten wir allerdings nicht, als wir uns am frühen Morgen auf dem Parkplatz der Seilbahn bei Ehrwald trafen.


Spar dir die Seilbahn


Wanderer nehmen in Ehrwald die Seilbahn rauf zur Ehrwalder Alm und gewinnen damit mühelos rund 400 Höhenmeter. Alternativ ist übrigens auch die Anreise mit dem Zug möglich – ohnehin die umweltfreundlichste Variante. Wer mit dem Zug kommt, sollte aber tatsächlich gleich einen zweiten Akku einplanen und startet besser vom Bahnhof in Garmisch. Von Garmisch nach Ehrwald sind es 25 Kilometer, und bei dieser Variante ist die Umrundung des gesamten Zugspitz-Massivs am Abend komplett.


Wer mit dem E-Bike da ist, spart sich das Ticket für die Seilbahn und strampelt vom Parkplatz an der Almbahn direkt bergauf zur Ehrwalder Alm. „Obermahd“ heißt die Straße, ein gut ausgebauter Wirtschaftsweg, der zwar steil ansteigt, sich aber mit elektrischer Unterstützung ohne fahrtechnische Schwierigkeiten entspannt hochradeln lässt. Wanderer gibt es auf dem ersten Abschnitt so gut wie keine, die fahren alle mit der Bahn. Solche Wege sind der ideale natürliche Lebensraum des E-MTB: Hier kann es alle seine Vorteile ausspielen – die dynamische Fahrt bergauf ist keine Quälerei und reiner Flow. Genau wie die Seilbahn endet der Weg an der Ehrwalder Alm, wo wir das erste Weißbier nehmen könnten - wäre es nicht noch früh am Morgen, noch reichlich frisch und taunass auf 1.500 Metern über Meeresspiegel.


Von der Ehrwalder Alm führt ein anfangs nur moderat ansteigender Wanderweg an der Südwestflanke des Zugspitzmassivs entlang, unterhalb des Issentalköpfl und vorbei an der Hochfeldernalm. Ein grandioser Blick öffnet sich auf das umliegende Alpenpanorama in allerschönster Vormittagssonne. Wir überschreiten bald die 2.000 Meter-Höhenlinie. Hinter der Hochfeldernalm mündet der Wirtschaftsweg in den Max-Klotz-Steig, einen Singletrail, der zunehmend alpin wird. Es beginnt auf dem Schuttkegel des Issentalköpfl – und plötzlich ist Fahren nicht mehr möglich. Wir müssen schieben. Bikes mit 20 bis 25 Kilo.


Natürlich haben die E-Bikes einen Schiebemodus. Dafür muss man aber ständig eine Taste am Bedieninstrument gedrückt halten, was in dem anspruchsvollen Gelände unfassbar nervt. Ständig unterbricht der Schiebemodus, der Daumen krampft. Für Wanderer harmlos, mit dem E-Bike selbst für geübte Mountainbiker nur noch unter Einsatz des ganzen Könnens halbwegs fahrbar – und in jedem Fall kraft- und zeitraubend. Der E-Motor wird bereits jetzt zum Nachteil: In den zunehmend technischen Passagen wünschen wir uns leichteres Gerät.


Fein dosiertes Antreten bleibt schwierig – es sei denn, man verzichtet komplett auf die Motorunterstützung. Bergauf musst du dich vorwärts über den Lenker lehnen, auf dem losen Schotter dreht beim Antreten das Hinterrad durch. Dosiertes Versetzen von Vorder- oder Hinterrad ist viel träger als mit einem normalen Mountainbike. Pia flucht. Als erfahrener Mountainbike Guide beherrscht sie nicht nur die Fahrtechnik, sondern kennt auch das Gelände gut. Aber sie hat es anders in Erinnerung: „Ich war fest überzeugt, hier lassen sich viel mehr Abschnitte am Stück fahren“. Dann kommt das Gatterl.


Über das Gatterl aufs Zugspitzplatt


Das Gatterl ist der wirklich sehenswerte Grenzübergang zwischen der Österreicher Seite der Zugspitzarena und dem deutschen Teil – mit tollem Ausblick aufs Reintal, die Zugspitze und die umliegenden Bergketten. Wir kommen von Ehrwald, also der Österreicher Seite. Den Weg zum Grenzzaun und die Sicht auf den berühmten Grenzpfahl versperrt eine kurze aber knackige Kletterstufe, abgesichert mit durchlaufendem Stahlseil. Wir fassen das Seil und schaffen die schweren E-Bikes gemeinsam über die Felsstufen, eins nach dem anderen. Zum Glück sind gerade keine Wanderer da. Ist ja nur diese eine Stelle! Glauben wir. Da ist er, der „Fitzcarraldo“-Moment!


Was machen wir da eigentlich? Zu Fuß wäre das eine harmlose Wandertour, mit den fast 25 Kilo schweren E-Bikes hingegen ist es schweißtreibende Plackerei. Genauso gut kannst dir auch den Rucksack mit Steinen füllen. Kann man machen, ist aber absurd. Und nichts für wenig Trainierte. Auf solchen Pfaden erreicht das E-Bike eindeutig seine Grenzen: Ein normales Mountainbike hätten wir hier geschultert – auch nicht unanstrengend aber immerhin problemlos machbar, selbst über längere Abschnitte hinweg. Mit dem E-Bike geht das nicht, gleich gar für eine zierliche Frau wie Pia. Aber Pia ist eine Kämpferin. Sie gibt nicht auf.


„You are crazy“


Hinter dem Grenzzaun führt der Singletrail auf deutscher Seite weiter. Er ist kahl, voller Geröll und weiterhin nur für sehr gute Techniker auch nur halbwegs fahrbar (durchweg S3 bis S4). Die Sonne steht schon viel höher als geplant, der Steig am Gatterl hat viel Zeit gekostet und Körner. Unser Wendepunkt, die Knorrhütte, ist von hier aus zwar schon gut zu sehen, scheint aber noch unendlich weit entfernt auf der gegenüberliegenden Seite des Bergmassivs. Pushen bringt in dem Gelände gar nichts, das ist viel zu technisch, das erhöht nur die Verletzungsgefahr.


Eine Gruppe Wanderer kommt uns entgegen, sie sehen uns in der Steinwüste über grobe Blöcke tanzen, weichen freundlich zur Seite aus, lachen, schütteln die Köpfe. „You are crazy“, sagt einer auf Englisch. Amerikaner, wahrscheinlich aus der US-Garnison in Garmisch. „Oh yes, you are right“, denke ich mir, bedanke mich und lache zurück. Am unteren Rand des Zugspitzplatts kämpfen wir uns weiter in Richtung Brunntalkopf, an dessen Südflanke endlich die Knorrhütte liegt. Rechts tief unten das Reintal. Da wollen wir hin! Aber erst mal Pause.


Durchs Reintal nach Garmisch


Ab jetzt geht es nur noch abwärts. Doch der Flow lässt auf sich warten: Von der Knorrhütte führen steile Serpentinen über den Schuttkegel des Brunntalkopfs ins Tal. Der lose grobe Schotter erweist sich als extrem tückisch. Wiederholt will mich mein Hinterrad überholen, immer wieder rutscht das schwere E-Bike zur Seite weg, schlittert, taucht in den tiefen Schotter ein. Langsaam, immer schön langsam! Das ist zwar beherrschbar, so bleibt aber auch Downhill extrem anstrengend. Das hohe Gewicht der E-Bikes und ihre relative Trägheit ist auch hier ein Nachteil.


Endlich erreichen wir sturzfrei das Reintal und ballern befreit auf dem Trail (S2) talwärts, erst am Gatterlbach entlang, der bald in die Partnach mündet. Die entspringt hier etwas oberhalb von 1.400 Metern und bietet eine berauschende Naturkulisse. Wir sind jetzt sehr zügig unterwegs, der Trail (S2) ist gut fahrbar, es stellt sich doch noch Flow ein.


Bald erreichen wir die Bockhütte und wenden uns ohne weitere Pausen Richtung Garmisch und Farchant, wo unsere Autos stehen. Es wird bereits dunkel, als wir in Garmisch einrollen. In völliger Dunkelheit holen wir schließlich das Fahrzeug ab, mit dem wir am Morgen in Ehrwald gestartet sind. Es war eine tolle Erfahrung. Aber nichts, was man zweimal machen muss.


E-MTBs sind für solche Touren ungeeignet. So einfach ist das.


(der Text erschien Anfang 2020 in einer Ausgabe der Zeitschrift bikesport EMTB, die es mittlerweile nicht mehr gibt).

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