Hartmut Ulrich Logo

Mit den Bikes zum Karwendelhaus

Karwendel Overnighter

Mit ein bisschen Planung kannst du an einem einzigen Wochenende grandiose Erlebnisse realisieren. Alles was du brauchst, sind ein paar coole Leute, ein paar Gravel- oder Mountainbikes und der unbändige Wille, sich auf keinen Fall von solchen Banalitäten aufhalten zu lassen wie einem platten Reifen. Oder zwei. Oder drei.

„Ich hoffe, Du hattest einen schönen Tag“, wünschen Dir Leute, wenn sie zum Geburtstag gratulieren und dabei Hoffnung mitreichen wollen. Bei einem 55. Geburtstag ist das mehr als angemessen, wer weiß schon, wie lange Opa es noch macht. Kann aber auch sonst jeder gut gebrauchen, zumal in diesen absurden Zeiten, in denen manchem Zeitgenossen das Lachen und die Zuversicht schon ein bisschen abhanden gekommen sein können. Ist ja ehrlicherweise auch noch keineswegs absehbar, wo uns das alles hinführen wird. Und mit Mundschutz und Zugangsbeschränkungen einen „schönen Tag“ zu feiern, ist ja auch ein bisschen schwieriger als vorher (wir waren bei diesem Abenteuer mitten in Corona. 2020). Sofern man von den Freuden des Konsums abhängt oder von orgiastischen Events. Ich bin da eher gegenteilig veranlagt: Möglichst weit weg aus der Stadt, weg von zu vielen Menschen, dorthin, wo es nicht mal Netz gibt.


Und ja in der Tat, ich hatte einen schönen Tag. Ein paar Leute haben schon ziemlich verdutzt reagiert als ich ihnen sagte, dass ich das Wochenende über gearbeitet habe. Jetzt, wo doch alle auf Kurzarbeit sind. Aber in meinem Job lässt sich eben nicht immer so genau trennen, was Arbeit ist und was herbes Erlebnis, das mischt sich nahtlos - und ist das Salz in der Suppe jener Tage, an denen Management einfach nur das ist, was es überall sonst auch ist.


Jetzt aber genug vorgeplänkelt: Wir waren mit den Gravelbikes im Karwendel. Uneingeschränkt geil war der Wetterbericht nicht (seit die Wetterfrösche kaum noch Messdaten durch den abgeebbten Flugverkehr haben, tun sie sich spürbar schwerer mit präzisen Ansagen). Aber zum Graveln gehören ja immer auch ein bisschen Dreck und Matsch, und dafür sollte es vorher ordentlich geregnet haben. Hatte es. Die Flüsse alle ein bisschen drüber, die Hänge und Wiesen vollgesogen mit Wasser. Wir also einen absurd überdimensionierten Miet-LKW mit drei fein gepackten Gravel-Racern aus dem Test-Kanon der RennRad sowie Ausrüstung für zwei Tage beladen und Freitag Abend nach Lermoos gefahren. Natürlich hätte man auch alles von München aus mit dem Rad machen können, aber das hätte das Zeitfenster in den Bergen verkürzt. Wir hatten ja nur Samstag und Sonntag. Die Ferienwohnung von Marcos Familie diente uns als Basislager, und so konnte es gleich am Samstag früh losgehen. Von Lermoos die paar Kilometer rüber nach Ehrwald und dort hoch zur Ehrwalder Alm.


Die 400 Höhenmeter, die Touristen mit der Seilbahn hochfahren und vielleicht noch ein paar elektrisch verstärkte Dare Devils mit dem E-Bike, sind wir dann schon mal analog mit den Bikes raufgetreten, immer solide zweistellige Steigungsprozente auf der Uhr. Noch keine zwei Stunden auf Tour, und ich dachte zum ersten Mal über die nicht ganz mountainbiketaugliche Schaltbandbreite meines Bikes nach, die immer genau da endete, wo mir ein weiterer Gang oder noch zwei Zähne auf dem Pizzateller im Heck sehr willkommen gewesen wären.


Jan hatte die zwei Zähne, wofür ich ihn schon nach dem zweiten Anstieg zu hassen begann, und er zog dann auch an jeder Steigung über zwölf Prozent erbarmungslos von uns weg, Kurbelumdrehung um Kurbelumdrehung. Was in Wirklichkeit vor allem daran liegt, dass er am Berg einfach fitter ist als ich, deutlich jünger außerdem. Das mit dem Hass stimmt so natürlich auch nicht, Jan ist ein Pfundskerl, und ich hätte ja einfach nur ne ordentliche Übersetzung ins Setup nehmen müssen. War aber zu wenig Zeit.


Es ging dann weiter Richtung Scharnitz und rauf zum Karwendelhaus. Noch im wundervollen Isartal hinter Scharnitz kamen die Schauer (ja genau, die Isar entspringt hier oben im Karwendel). Während das Wetter die ersten Stunden ganz ordentlich mitgespielt hatte, wurde es nun nass. Was aber eigentlich total egal war, denn wer konstant den Berg rauftritt, schwitzt sowieso. Und wenn du nicht lang rumjammerst und lieber das grandiose Tal bewunderst, bist du irgendwann auch fast schon versehentlich auf über 1.700 Metern und siehst oben am Berg das Karwendelhaus, wo das ersehnte Weißbier wartet. Und ein Trockenraum für die nassen Sachen (fies, wenn du jetzt zelten musst). In Austria haben die Corona schon beinahe vollständig verdrängt, es gab zwar keine Decken in den Hüttenbetten aber auch keine Maskenpflicht mehr. Wir haben dann total wild reingefeiert, was heißt, wir lagen um 9 schon still im Bett, weil erstens müde und zweitens hatten wir den Tag drauf auch noch was vor. Bisschen mehr als heute. Auch ne Art, den längsten Tag des Jahres bis zur Neige auszukosten.


Vom zweiten Tag erzähle ich hier nicht groß, weil erstens liest sowieso kaum wer bis hierher und zweitens kommt das noch in der RennRad als Story. Außer vielleicht noch, dass es deutlich länger ging als geplant, weil zwei doofe Platten dazu kamen, eine Flussüberquerung und zwei Muren quer über den Weg. Und vermutlich an die 1.350 geschlossene Viehweidengatter.


Wir hatten bei den Testrädern keine Tubeless-Reifen eingeplant (eindeutig ein Fehler). Offenbar gibt es im Karwendel genauso fiese kleine Dornen wie in Marokko (Marco war am Start beim Atlas Mountain Race). Du siehst sie kaum, sie bohren sich erst halb durch den Mantel, du fährst weiter, und irgendwann kommen sie durch den Schlauch und erhöhen spürbar das Rumpeln am Hinterrad. Oder vorn. Während sich das mit Tubeless meist völlig unbemerkt von selbst wieder abdichtet durch die Dichtmilch im Reifen, steigst du bei Schlauchreifen fluchend ab und flickst. Flickst nochmal. Und pumpst. Und fluchst. Und betest, dass du keine von den Scheißdornen übersehen hast. Hatten wir aber.


Die Flussüberquerung hat dann zusätzlich noch ein bisschen Alaska-Feeling reingebracht, zumindest was die Eistemperatur der „Gletschermilch“ betraf, Räder geschultert, Schuhe aus, barfuß durch. Das gibt warme Füße! Aber erst hinterher, etwa eine halbe Stunde später, nachdem dir beinahe die Flossen abgefallen sind von der Kälte. Und dann hatten wir noch die wahrscheinlich steilste Abfahrt, die wir je gefahren sind. Schließlich gab der Garmin-Akku auf, rund 30 Kilometer vor Tourende. Geil, ab jetzt nur noch Zufallsrouting! Nein, zum Glück gab’s noch zwei andere Teilnehmer mit der Route im Bikecomputer.


Apropos geil: Ich hatte ein Röhrchen Mineraltabletten mit. Die hat es von dem permanenten Gerüttel derart zerbröselt, dass von Tabletten keine Spur mehr übrig war. Nur noch feines Pulver. Das nur so als kleine Info, falls jemand in Erwägung ziehen sollte, zum Graveln sein 1.000-Euro-Smartphone auf dem Lenker zu mounten... 171 Kilometer, rund 4.700 Höhenmeter, Statistik-Freaks finden das alles auf Strava. Und später auch mit den richtig guten Fotos als Geschichte in der RennRad. So, ich verabschiede mich, ich muss mal was arbeiten.


Diese Tour war eine Produktion für das RennRad Magazin und ist dort als Geschichte erschienen (mit anderem Text natürlich).

Share by: