Biancograt und Bernina-Überschreitung
Die Bernina gehört zu den beeindruckendsten Gebirgszügen der Ostalpen und stellt mit ihrem höchsten Punkt, dem Piz Bernina, ihren einzigen Viertausender. Der Biancograt gehört zu den spektakulärsten Hochtouren im Alpenraum und darf in keinem Tourenbuch fehlen. Es hat allerdings mehrere Anläufe gebraucht, bis die Bedingungen stimmten für die mehrtägige Überschreitung aller Gipfel.
Fotos: Hartmut Ulrich
11. September 2017. Obwohl wir wussten, dass das Wetter nicht besonders stabil sein würde, sind wir trotzdem losgezogen. Mir war's auch egal, ich hatte das Matterhorn auf der Liste und brauchte unbedingt noch ein bisschen Hochtouren- und Höhentraining. Warum also nicht der Biancograt?
Natürlich kannst du mit der Seilbahn direkt hoch auf die Diavolezza fahren und hast den Palü mit seinen drei beeindruckenden Pfeilern dann direkt vor der Nase. Aber wir hatten etwas anderes im Sinn: die Überschreitung vom Biancograt aus und Abstieg über den Palü zur Diavolezza. Also ging es Pontresina aus zu Fuß durchs Val Roseg und von dort in Richtung Tschiervagletscher und Tschierva-Hütte - ein wundervoller Neubau des SAC Schweizer Alpenvereins. Von dort hast du einen atemberaubenden Blick auf den Biancograt und die Bernina.
Als wir losgingen, war es sommerlich warm, und trotz der Hitze kamen wir schnell ordentlich ins Schwitzen. Sollte ja kein Spaziergang werden, sondern ein kleines Bergtraining zum Eingewöhnen mit überschaubaren 800 Höhenmetern bei zwölf Kilometern Distanz. An der Tschierva-Hütte waren Biancograt und Bernina bereits meistenteils in Wolken gehüllt - es brauchte bereits einige Geduld, um die kurzen Momente zu erwischen, in denen die Wolken aufrissen. Der Hüttenwirt erzählte von einer Gruppe Bergführer-Aspiranten des Schweizer Alpenvereins SAC, die am Morgen einen Versuch am Grat unternommen hatten - und umkehren mussten: Zu viel Neuschnee.
Obwohl ich das bereits beim Blick auf den Wetterbericht befürchtet hatte, ist die Enttäuschung dann immer groß. Wir beratschlagten ein bisschen und beschlossen, am nächsten Tag wenigstens einen Versuch am Morteratsch zu wagen, von wo man einen grandiosen Blick auf den gegenüberliegenden Biancograt hat und bei gutem Wetter auch grandiose Bilder bekommt.
12. September 2017. Am nächsten Morgen maximal beschissenes Wetter. Schneeregen im Hochsommer (die Tschiervahütte liegt ja auch auf 2.583 Metern, die Wolkenunterkante bis runter zur Hütte, alles im Nebel. Wir trotzdem los, waren ja nicht zum Spaß hier. Dass nicht mal der Morteratsch in Frage kommen würde, war auch schon klar. Aber wir wollten immerhin über die Bovalscharte queren, um zur Bovalhütte zu kommen und von dort ins Tal und not der Bahn hoch bis zur Diavolezza. Für den darauffolgenden Tag sollte das Wetter deutlich beständiger werden, wir hatten uns auf einen Versuch auf dem Normalweg am Palü verständigt. Für mehr würde unsere Zeit nicht mehr reichen.
Bereits nach den ersten Klettermetern im nassen Schneeregen waren meine Handschuhe vollkommen durchnässt. So lange die Finger in den Handschuhen waren, kein Problem. Aber dann habe ich wieder was gelernt: Ball-Lock-Karabiner sind beim Sportklettern oder in der Halle toll. Man drückt eine Kugel nach innen (den Ball - deswegen der Name) und kann erst dann den Karabinerverschluss entriegel. Das ist idiotensicher, eigentlich kaum versehentlich zu öffnen. Schnell ist es auch mit etwas Übung - viel schneller als der klassische Schraubkarabiner. Aber wenn es nass ist und du einen Ball-Lock mit einem nassen Handschuh öffnen willst, wirst du dein blaues Wunder erleben. Es geht einfach nicht. Ich also einen Handschuh ausgezogen und versucht, das Ding zu öffnen. Die Finger waren bereits so kalt, dass ich den Karabiner auch ohne Handschuh nicht aufbekommen habe. Offenbar war Wasser in den Verschluss gelaufen und gefroren. No way. Seit diesem Tag benutze ich auf Hochtour nur noch Schraubkarabiner, die ich vorher leicht fette gegen Einfrieren.
Die Finger waren so kalt, dass sie bereits gefühllos wurden. Ich also das zweite Paar Handschuhe aus dem Rucksack gefummelt, Armkreisen. Fuck. Schon am Anfang der Tour ein Paar Handschuhe völlig durchnässt, und wir waren gerade erst losgegangen. An der Bovalscharte war die Wolkendecke so niedrig, dass wir buchstäblich nichts mehr sahen. Keine Spur, keinen Weg, keine Richtung. Mit GPS am Berg navigieren ist nicht unbedingt ideal, weil du die Höhe nur schlecht einschätzen kannst, die ist eigentlich immer ungenau. Auch langsam gehen mit GPS ist heikel, weil das Signal teilweise sehr lange braucht, bis es Gehrichtung und Position sauber anzeigt. Aber wenn du in einem Whiteout stehst, ist GPS besser als gar nichts. Wir haben es dann doch noch runtergeschafft zur Bovalhütte. Eine sündhaft teure Eisschraube verloren, weil der Materialkarabiner wohl im Schnee unter Druck geöffnet hatte. Mitte Juli im hüfftiefen Schnee. Wir wollten es ja nicht anders.
13. September 2017. Am gleichen Tag waren wir von der Bovalhütte am Gletscherrand entlang durchs Tal marschiert und noch am Abend mit der letzten Bahn hoch zur Diavolezza gefahren, wo wir übernachten wollten: Für den nächsten Tag war gutes Wetter angesagt, und wir wollten wenigstens den Palü über den Normalweg versuchen, wenn es schon nicht geklappt hatte mit dem Morteratsch. Am nächsten Morgen ging es bei Dunkelheit von der Divolezza über den Persgletscher in Richtung Palü. Die Nordwand erreichten wir kurz nach Einbruch der Dämmerung - ein atemberaubender Blick über die Berglandschaft zwischen Seracs und Gletscherspalten. Dann begann der Anstieg zum Palü-Ostsattel. Durch die Schneefälle vom Vortag gab es keine Spur. Abwechseln beim Spuren, maximal kräfte- und zeitraubend. Gegen zehn Uhr kam die Sonne über den Sattel der Norwand, und es wurde windig. Sehr windig. Weiße Schneefahnen bliesen uns um die Ohren. Teilweise war der Wind so stark, dass das schwere Kletterseil zwischen uns frei in der Luft hing wie eine Fahne im Wind. Oben am Gipfelgrat zog sich eine weiße Fahne aus Eiskristallen in Windrichtung. So muss das am Everest sein. Nur noch viel kälter. Und noch viel weniger Sauerstoff in der Luft. Hier waren wir ja erst auf 3.200 Metern.
Als wir wenig später der Sattel erreichten, war der Wind so stark, dass klar war: Der schmale Grat zum Palü-Gipfel wäre zu gefährlich. Umdrehen, absteigen, zurück durch den Tiefschnee, jetzt immerhin gespurt und bergab. Ein Königreich für ein paar Skier! (die wir allerdings auch erst einmal hochtragen hätten müssen).
2018 war ich wieder in der Bernina, dieses Mal Mitte Juli. Das Wetter war viel besser - und dieses Mal sollte die komplette Bernina-Überschreitung klappen. Wenn auch teilweise in dichten Wolken - aber ohne Schnee und andere Überraschungen.
2021 war ich ein weiteres (und vorerst letztes) Mal in der Bernina, um den Ostpfeiler in der Nordwand des Piz Palü zu klettern. Der hatte mich bereits 2018 angelacht - von der Diavolezza hat man einen grandiosen Blick auf die drei Pfeiler des Palü. Story und Bilder dazu gibt es hier.
Piz Morteratsch - der gegenüberliegende Biancograt leider in Wolken (17. Juli 2018)
Fotos: Hartmut Ulrich
Piz Roseg (18. Juli 2018)
Fotos: Hartmut Ulrich
Piz Bernina Überschreitung über Biancograt (19. Juli 2018)
Fotos: Hartmut Ulrich
Piz Palü Überschreitung mit Abstieg zur Diavolezza (20. Juli 2018)
Fotos: Hartmut Ulrich