Rad Race 120 durchs Allgäu im Mai 2023
Es ist zwar nicht unbedingt Voraussetzung bekloppt zu sein, um mit 58 noch ein Radrennen ohne Altersklassen mitzufahren, erleichtert die Sache aber ungemein. Das Rad Race 120 im Allgäu hatte ich jedenfalls vorher gar nicht auf dem Zettel. Es ist auch eigentlich viel zu früh im Jahr: Rennen im Mai sind immer zu früh, wenn du den Winter auf allen Viren gekämpft hast und als Amateur mit Job und Familie auch in gesundem Zustand sowieso immer viel zu wenig Zeit fürs Training hattest. Anyway.
Fotos: Sportograf
Manchmal steht die Tür nur ganz kurz offen für die Gelegenheiten, die das Leben dir so bietet, mal größere, mal kleine. Wenn du dann nicht schnell genug den Fuß reinstellst, ist die Tür auch schon wieder zu. Natürlich ist es egal, keine Erinnerung an etwas zu haben, das du gar nicht erlebt hast. Aber je spontaner es gelingt, die Aussicht auf ein Abenteuer außerhalb der Routine in den Kalender zu krakeln, desto intensiver die Vorfreude. Ein Grund zu trainieren, das Feierabendbier doch nicht zu trinken, diszipliniert und gerade deswegen sehr zufrieden mit sich zu sein: Ein Ziel eben.
Genug Vorspannphilosophie. Das RadRace 120 im Allgäu hatte ich jedenfalls nicht auf dem Radar. Für mich war RadRace gedanklich abgespeichert unter Last-Wo/Man-Standing-Wettbewerb auf Indoor-Kartbahnen, gefahren mit Fixed Bikes und hoher Sturzgefahr, nix für mich. Wahrscheinlich lag das daran, dass die Insta-Bilder der Indoor-Wettbewerbe sehr dominant waren in der Anfangszeit.
Im Mai 2023 war ich ohnehin schon in der Vorbereitung für ein anderes, größeres Ziel, den Ötztaler Radmarathon. Den war ich noch nie gefahren, wollte aber immer. Der Ötzi gilt als Ritterschlag für Amateure, du musst ihn einfach im Tourenbuch haben, um mitreden zu können. 2023 würde der Ötzi bereits Anfang Juli stattfinden und nicht wie sonst, Anfang September – also zum Ende der Fahrradsaison, wenn auch Amateure mit eingeschränkter Zeit fürs Training genügend Kilometer in den Beinen haben, um an den vier steilen Bergpässen und über 225 Kilometer nicht komplett einzugehen.
Ein anderes Timingproblem für Familien mit Schulkindern sind allerdings auch die bayerischen Schulferien: Die sind später als in allen anderen Bundesländern und enden erst in der zweiten Septemberwoche. Heißt: An den Ötzi-Septemberwochenenden war ich immer mit der Familie irgendwo in Europa in den Sommerferien, nur nie in der Nähe von Sölden. Und dann ist da ja auch noch das klitzekleine Problem mit den Startplätzen: Auf 4.000 Tickets kommen jedes Jahr rund 20.000 Bewerber:innen, einfach mal so spontan mitfahren ist also auch nicht.
Aber eigentlich wollte ich hier gar nicht über den Ötzi sprechen, sondern über das RadRace 120 im Allgäu. Den halben Winter hatte ich mich Erkältungen zu kämpfen gehabt, wie immer zu viel gearbeitet und zu wenig strukturiert trainiert. Ich fühlte mich, Verzeihung, Scheiße. Weit entfernt von einer guten Form und irgendwie auch lustlos. Übertrainiert? (im Winter auf Zwift zu oft sinnlos geballert, statt mit Verstand Grundlagen aufzubauen). Zu gestresst vom Medienjob? Es fühlte sich wirklich nicht motivierend an. Mit weniger Energie und Elan als gewohnt ging ich in die Saison (ich schreibe dies hier im März 2024 – an meinen Leistungsdaten von diesem Jahr auf Strava kann ich gut erkennen, was für ein mieses Jahr 2023 tatsächlich für mich war). Ich hätte wohl eine längere Pause gebraucht – und hatte dabei doch den Traum vom härtesten und prestigeträchtigsten Amateurrennen der Ostalpen im Kopf. Und vor allem den heiß begehrten Startplatz.
Das RennRad-Team hatte eigentlich gar nicht vor, mich alten Sack zu fragen, ob ich das Rad Race 120 mitfahren wollte. Sie planten mit einer Besetzung junger starker Fahrer aus der Redaktion und aus Sales. Der Wettbewerb besteht aus zwei Parts, einem Time Trial am Vortag, einem Mannschafts-Bergzeitfahren über knappe vier Kilometer – an einer eisenharten Steigung, die dir in nur 20 Minuten komplett den Stecker zieht. Das musst du voll fahren, all out. Und am Tag drauf aus einem Straßenrennen über 120 Kilometer.
Dieses Mannschafts-Bergzeitfahren ist als Prolog konzipiert, mit der Möglichkeit, für das Rennen über 120 Kilometer am Folgetag vom Startblock C weiter vor nach Block B oder A zu rücken. Mannschaften können beliebig groß sein – gewertet wird aber jeweils nur die schlechteste Zeit am Berg. Also, ähm, meine.
Irgendwer von den Jungs muss jedenfalls ein paar Tage vor dem Rennen versehentlich auf das Steigungsprofil des Time Trials geguckt und davon ganz spontan Magenprobleme bekommen haben. Und weil eine Mannschaft mit nur zwei Startern keine ist, haben sie mich gefragt, in letzter Minute. So waren wir jetzt also zu dritt. Ich beschloss, es sportlich zu sehen, dem Team zu helfen, so gut ich konnte. Physik ist gnadenlos, mein Kraft-Gewichtsverhältnis ist nie gut gewesen, immer zu schwer, tendenziell zu viel Muskeln am Oberkörper (vom Klettern), zu wenig in den Beinen. In Kombination mit einer altersbedingt Jahr für Jahr schwächer werdenden max. Sauerstoff-Aufnahmekapazität ist das eine ganz miese Kombination für ein Bergzeitfahren. Egal.
Es ist schon ein Erlebnis für sich, bei einem Zeitfahren mit dem Team auf der Rampe zu stehen, während neben dir die Uhr runterzählt wie beim Skiweltcup oder der Tour de France. Wenn es dann endlich losgeht und dich alle wild anfeuern, mit lauter Mucke, Moderatorengetöse, Kuhglocken und so. Profifeeling am Samstagnachmittag für ein paar Sekunden: priceless. Und dann unfassbar brutale 20 Minuten im Anstieg.
Jedenfalls hatte ich schon sehr lange keinen Blutgeschmack mehr auf der Lunge. Einen Puls von über 180 auch nicht. Anfang der 1980er-Jahre bin ich mal unvorbereitet bei "Jugend trainiert für Olympia" einen 400-Meter-Wettbewerb mitgelaufen - auch so ein spontanes "Rette die Mannschaft!"-Ersatzmann-Ding. Meine Disziplinen waren damals eigentlich 100 Meter und Weitsprung - aber nicht 400 Meter. Wer jemals die 400 in einem Wettkampf gelaufen ist, weiß, wovon ich spreche. Du sprintest das voll, musst aber die Puste für 400 Meter mitbringen - und das zieht sich etwa ab Meter 250 ganz entsetzlich. Mit 52,47 Sekunden (die Zeit habe ich mein Leben lang nicht vergessen) war ich zwar überraschend schnell - für Olympia hat es aber trotzdem nicht mal annähernd gereicht. Damals hatte ich auch dieses Gefühl, gleich zu explodieren und habe nach dem Zieleinlauf erst mal neben die Tartanbahn gekotzt. Hach, romantische Erinnerungen (auch den Geruch des roten Tartan in der Sonne vergisst du dein Leben nicht)!
Die Strategie für einen vier Kilometer kurzen aber steilen Anstieg und einen eher schlecht trainierten Fahrer ist jedenfalls rührend unterkomplex: Voll rein, in der Mitte nochmal alles geben und am Ende dann all out bis zur Zielflagge. Kleine Vorbelastung vor dem Rennen am Freitag Nachmittag. Am Berg war ich dann erwartungsgemäß bereits nach der ersten Minute am Anschlag. Dieses Gefühl, Herz und Lunge gleichzeitig aus dem Körper zu keuchen, da war es wieder.
Und das war ja nur der Prolog. Das eigentliche Rennen stand uns ja erst bevor, am Sonntag in der Frühe um sieben. Und weil beim Time Trial nur die schlechteste Mannschaftszeit für den Startblock gewertet wird, landeten wir in Block C. Eigentlich hätten wir uns das Bergzeitfahren damit auch komplett sparen können (Starter ohne Teilnahme am TT stehen automatisch in Block C). Aber wer will das schon.
Am frühen Sonntagmorgen um kurz nach sechs in der Absperrung eines Radrennens zu stehen und auf den Start zu warten, ist ein ebenso fieses wie einzigartiges Erlebnis. Mir ist dann immer ein bisschen übel vor Aufregung. Meist habe ich schlecht geschlafen, meist friere ich auch, denn die Bekleidung für ein Rennen Ende Mai ist dünner als das perfekte Outfit zum Rumstehen bei Sonnenaufgang. Es gibt Leute, die nehmen eine alte Daunenjacke mit und lassen sie dann einfach am Start zurück. Ich schnatter mich halt warm. Du hast dich normalerweise akribisch vorbereitet und bist nun gespannt, ob es dir gelingen wird, die Leistung auch abzurufen. Und ob du hoffentlich sturzfrei bleibst.
Das Rad Race 120 startet mitten in Sonthofen und führt durchs wundervolle Allgäu, anfangs eher flach – die Strecke kannte ich in Teilen schon vom Radmarathon im Tannheimer Tal, den ich zweimal gefahren bin (einmal dieses denkwürdige 2019, wo wir die ersten Stunden bis auf die Knochen durchnässt in einem krassen Unwetter fuhren und von 1.200 Startern nur die Hälfte ankam). Und dann 2022 nach Corona, wo die Bedingungen so viel besser waren, dass ich die 220 Kilometer auf der identischen Strecke eine satte Stunde schneller war als 2019 - alle anderen aber auch.
Das Rad Race 120 war theoretisch die perfekte Vorbereitung für den Ötztaler. Mit dem Riedbergpass enthält es, wie auch der Radmarathon im Tannheimer Tal, die höchste mit dem Auto befahrbare Passstraße Deutschlands – und mit 18% Steigung auch einige ziemlich steile Abschnitte. Wäre nur nicht der Defekt gewesen.
Es muss wohl so gewesen sein, dass ich beim Zusammenbauen des Rads am Vorabend die Steckachse am Hinterrad nicht ausreichend festgezogen hatte (nie wieder unterwegs ohne Drehmomentschlüssel!). Am Riedbergpass jedenfalls, mitten im tiefsten Jammer des steilen Anstiegs, fühlte sich nicht nur der Fahrer nicht mehr gut an, sondern plötzlich auch die Schaltung. Die Kette sprang und begann zu rattern. Erst hab ich das nicht verstanden und zu ignorieren versucht – bis ich entsetzt bemerkte, dass die Steckachse, die das Hinterrad fixiert, sich gelöst hatte und einen guten Zentimeter aus der Führungshülse herausragte. Ich war kurz davor, das Hinterrad zu verlieren. Dadurch bekam das Ritzelpaket am Hinterrad Spiel, was sich anfühlte, als sei die Schaltung verstellt.
An einem steilen Bergpass an den Rand fahren, absteigen und die Gruppe ziehen lassen zu müssen, den Rhythmus zu verlieren und entsprechende Sekunden für die Bergwertung, ist das eine. Es ist frustrierend, wenn du eigentlich gar nicht so schlecht im Rennen lagst. Der Schaden ließ sich zwar schnell beheben (bei so einem Rennen hast du immer Werkzeug dabei). Nach wenigen Minuten stieg ich mit festgeknallter Steckachse wieder aufs Rad und weiter ging’s im Anstieg. Was ich allerdings nicht bemerkt hatte: Dass ich durch die lose Kassette mehrere Sperrklinken im Freilaufkörper verloren hatte, der sich ebenfalls den einen fatalen Zentimeter geöffnet hatte. Die kleinen Metallteile sind nur lose in den Freilauf eingesetzt und konnten deshalb leicht rausfallen. Der Freilauf würde nun nicht mehr richtig arbeiten - und ich hatte keine Ahnung, welche fiesen Folgen das noch haben würde.
Bei den Abfahrten ist mir dann mehrfach die Kette vom Blatt gesprungen. Plötzlich trittst du ins Leere, und die Kette hängt durch, ein ganz mieses Feeling bei über 50 km/h. Es wirkte, als sei die Kette zu lang und würde durch die Vibrationen und Schläge bei den Abfahrten vom Blatt springen. Mountainbiker kennen das auch, es gibt dafür eigene Chain Guides, die die Kette vom Abspringen schützen. Dabei hatte ich sie nach Vorschrift eingekürzt und auf die Schaltung angepasst - und machte mir jetzt trotzdem Vorwürfe, nicht sauber gearbeitet zu haben. Die Kette von Hand wieder neu aufzulegen, bescherte mir weiteren Zeitverlust und schwarze ölverschmierte Finger. Schwierigkeiten sind ja dazu da, um überwunden zu werden, Radrennen sind immer auch Kopfsache.
Frederik, dem stärksten Fahrer im Team, ist alles unter 10% Steigung zu flach. Er kann dann seine Stärken nicht voll ausspielen. Frederik war 2021 Weltmeister im Double-Everesting. Das ist ein Wettbewerb, bei dem du zweimal die Höhe des Mount Everest fährst, also zweimal 8.849 Höhenmeter am Stück, auf einer selbst gewählten Strecke so lange immer rauf und runter, bis die erforderlichen Klettermeter beisammen sind. Es gibt eine offizielle Seite, auf der man seinen Versuch mit den GPS-Daten hochlädt, eine Jury prüft die Daten, und wenn du schneller warst als alle anderen vor dir, bist du so lange Weltmeister, bis irgendwer noch schneller war.
Mir hingegen ist eigentlich alles über 5% zu steil. Ich fahre dann nicht mehr schnell oder taktisch, sondern nur noch irgendwie durch. Und ein einfaches Everesting mit 8.849 Höhenmetern an einem Tag würde mich bereits an meine Grenzen bringen. Dreimal an einem Tag den Mont Ventoux rauf waren eigentlich auch schon genug für einen Tag.
Die KOM-Wertung im Rennen sind wir dann beachtlich gut gefahren: Beim KOM ("King Of Mountain") geht es darum, die gewerteten Anstiege als Schnellster zu absolvieren. In einer Mannschaft werden die sechs schnellsten Zeiten addiert, und das Team mit der niedrigsten Zeit gewinnt den KOM. In der Tour de France markiert das "Polka-Dot"-Trikot den Führenden in der Bergwertung. Beim Rad Race 120, das ja keine Rundfahrt ist, sondern nur ein relativ kurzes Eintagesrennen über 120 Kilometer, gab es insgesamt sechs Bergwertungen. Eine davon am Riedbergpass, an dem ich den Defekt hatte. Wir landeten mit knapp einer Minute Zeitdifferenz auf Platz vier der KOM-Wertung. Dass wir nicht aufs Podium gefahren sind, lag also an meinem Defekt und der Standzeit für die Reparatur. Ärgerlich. Aber trotzdem ein solides Ergebnis und eine würdige Vertretung unseres RennRad Magazins.
Je älter du wirst, desto weniger geht es dir ums Gewinnen. Erstens, weil du gar nicht mehr gewinnen kannst. Aber auch, weil du nun wirklich verstehst (davor tust du immer nur so, als ginge es nicht ums Gewinnen, es ist aber trotzdem immer so), dass Gewinnen gar nicht das Wichtigste ist. Wichtig ist, Ziele zu haben, sich darauf zu freuen, darauf hinzuarbeiten, sein Team zu unterstützen, alles gegeben zu haben. Das Leben ist kein Sprintrennen. Sondern ein Gran Fondo. Es geht um Ausdauer, darum, möglichst lange dabei zu bleiben und im Ziel mit sich zufrieden sein zu können.
Nächstes Jahr werde ich 60. Der größte mögliche Gewinn in diesem Alter besteht ohne Zweifel darin, an Wettbewerben wie dem Rad Race 120 üerhaupt noch teilnehmen zu können - und immer noch genau den gleichen Spaß daran zu haben wie all die jungen Heißdüsen. Das ist ein großes Geschenk, und ich bin unendlich dankbar dafür. Put me back on my bike!
P.S. Den Ötztaler im Juli acht Wochen später bin ich dann mit dem defekten Freilaufkörper gefahren. Ich hatte einen Chain Guide montiert und noch zwei Glieder aus der Kette genommen. Das hat beides nichts genützt, denn das Problem lag ja woanders - beim beschädigten Freilauf. Es wurde ein Drama. Sechsmal ist mir die Kette im Rennen vom Blatt gesprungen, und ich hatte insgesamt mehr als zwei Stunden Standzeit für Reparaturen. Letzlich habe ich verstanden, wo das Problem tatsächlich lag. Und bin doch noch irgendwie ins Ziel gekommen. Auch das war ein Abenteuer für sich. Habe ich hier aufgeschrieben.