Ich erinnere mich noch genau, was mir durch den Kopf schoss, als unser Boot im reißenden Fluss kenterte und ich mich der bizarren Gewalt des Hochwassers ausgesetzt sah. Mit Helm, Schutzweste und ohne Trümmerteile im Wasser bestand zwar keine große Gefahr - aber ich dachte im braunen Tosen an all die Menschen, die beim Stunami 2002 von der Welle überrascht worden waren und verstand, warum sie keine Chance hatten. Eine Lektion in Naturgewalt, wie sie kein Text jemals vermitteln kann.
Foto: Hartmut Ulrich
Der Fluss vom Regen angeschwollen und ganz braun. Der Wasserstand kratzt an der roten Marke, steigend. Rot heißt: zu hoch, zu reißend, unfahrbar - verboten. Noch eine halbe Stunde, sagen die Guides, dann haben wir Rot, dann wird der Fluss gesperrt, also rein jetzt, so lange es noch geht. Wenn es nicht geht, mach es trotzdem, denke ich mir: Was du nicht gemacht hast, existiert nicht. Die werden schon wissen, was geht und was nicht. Der beste Wasserstand dieses Jahr, sagen die Guides, wird bumpy. Grinsen. Es hat wenig geschneit im Winter, schon das ganze Jahr zu wenig Wasser im Fluss. Heute nicht. Starke Böen und einsetzender Regen.
Ein paar ungläubige Spaziergänger ducken sich unter ihre Schirme und beobachten uns von der Brücke nahe dem Startpunkt. Die wollen doch nicht etwa da rein, da in den Fluss! Doch, wollen sie. Und schon sind wir weg, beschleunigt von der Strömung, die nur wenige Paddelschläge vom Ablegeplatz vorbeischießt.
Wenn du mit dem Fallschirm auf dem Rücken aus der Seitentür eines Flugzeugs aussteigst, trifft dich der Windwiderstand wie eine gewaltige Faust und bremst deine horizontale Geschwindigkeit in wenigen Sekunden auf null, während deine vertikale Geschwindigkeit rasend zunimmt, bis die Luft dich schließlich trägt im Fallen. Auch in den Booten erleben wir diesen Ausgleich von Momentum - wenn auch viel viel gemächlicher. Wasser ist langsamer als Luft. Aber viel kraftvoller.
Rasch flussabwärts, schnelle Paddelbewegungen, um das Boot halbwegs in Richtung zu halten. Wenn du weder sonderliche Übung im Paddeln hast noch als Team eingespielt bist, ist das eine Herausforderung bei diesen Bedingungen. Nach wenigen Metern die ersten Brecher im Boot. Eiseskälte, trotz Neopren, das Wasser kommt von den Gletschern rund ums Ötztal. Plötzlich eine steile Welle, Boot kommt quer, einige halten sich nicht richtig fest, rutschen auf die Gegenseite, das Boot kippt, kentert. Weiter kieloben flussabwärts, rasend. Acht Schwimmwesten im Tosen. Weiß verkrampfte Hände an den Halteseilen, bloß nicht loslassen. Sand knirscht zwischen den Zähnen, Wasser in Mund, Nase, Augen und Ohren. Routine für die Guides. Boot drehen, Leute reinzerren. Ein Paddel ist weg. Wer kentert, zahlt eine Kiste Bier. Wird ein lustiger Abend.
Wer sich nie vorstellen konnte, wieso der Tsunami so viele Leben forderte, soll nur drei Minuten in diesen Gletscherfluss, mit Helm, verstärkter Schwimmweste und Halteseil am Schlauchboot, ohne Hindernisse und ohne Trümmerteile, er wäre sehr sehr kleinlaut danach. Bizarre Gewalt. "This is not Disneyland" grinst Paul, unser Guide aus Liverpool. Er macht das hier seit 14 Jahren. Im Winter ist er in Nepal, Indien oder sonstwo auf dem Globus. Simone findet ihn toll.
Später Schnaps zum Aufwärmen und Sprüche.
Wir Postheroischen ohne Ziel.